Oxidationszahlen
Oxidationszahlen sind eine formale Konstruktion, mit der jedem Atom eine formale Ladung zugeordnet werden kann. Sie dienen dazu in Redoxreaktionen das oxidierte und das reduzierte Atom zu identifizieren. Im Prinzip tut man einfach so, als wären alle Bindungen Ionenbindungen und gibt die Ladungen an, die sich in dem Fall ergeben würden.
Die Oxidationszahl wird normalerweise als römische Ziffer inklusive Vorzeichen über jedes Atom geschrieben.
Oxidationszahlen bei einfachen Salzen
Bei Salzen werden die Atome durch eine Ionenbindung zusammen gehalten. Bei einfachen Salzen wir Natriumchlorid, liegen sowieso alle Atome als Ionen vor und die Oxidationszahl ist mit der Ionenladung identisch.
Natriumchlorid (NaCl)
Im Periodensystem steht das Natrium in der ersten Hauptgruppe und hat demnach ein Elektron auf der äußersten Schale, dass es in Verbindungen mit Nichtmetallen wie dem Chlor abgegeben hat. Das daraus entstandene Ion ist einfach positiv geladen (Na+) und hat die Oxidationszahl +I.
Das Chlor steht im Periodensystem in der siebten Hauptgruppe und hat sieben Elektronen in der äußersten Schale. In Verbindungen mit Metallatomen hat das Chloratom seine äußerste Schale bis zur Erreichung der Edelgaskonfiguration mit Elektronen gefüllt und entsprechend ein Elektron aufgenommen. Dadurch ist es einfach negativ geladen (Cl-) und hat die Oxidationszahl -I.
Kupfer(I)- und Kupfer(II)oxid (Cu2O und CuO)
Im Periodensystem steht Sauerstoff in der sechsten Hauptgruppe und hat im ungebundenen Zustand sechs Elektronen in der äußersten Schale. In Verbindungen mit Metallatomen füllt das Sauerstoffatom seine äußerste Schale bis zur Erreichung der Edelgaskonfiguration auf und hat als Oxidion acht Elektronen in dieser Schale. Hierdurch ist es dann zweifach negativ geladen (O2-) und seine Oxidationszahl ist folglich -II.
Das Kupferatom kann als Übergangsmetall in Verbindungen unterschiedliche Ladungen haben, weshalb sich die Ladung des Ions nicht zweifelsfrei aus der Position im Periodensystem ablesen lässt. Stattdessen muss die Verhältnisformel Aufschluss geben. Im Cu2O kompensieren zwei Kupferatome gemeinsam die zweifach negative Ladung des Oxidions. Jedes der beiden Kupferionen ist demnach einfach positiv geladen (Cu+) und hat die folglich die Oxidationszahl +I. Daher rührt auch die I im Namen des Kupfer(I)oxids. Bei CuO kompensiert nur ein Kupferion die beiden negativen Ladungen des Oxidions. Dieses Kupferion muss deshalb zweifach positiv geladen sein (Cu2+) und hat folglich die Oxidationszahl +II, was auch die II im Namen Kupfer(II)oxid begründet.
Oxidationszahlen bei anorganischen Molekülionen
Viele Salze bestehen nicht ausschließlich aus so einfachen Ionen wie die vorgenannten Beispiele. Sie enthalten Molekülionen, wie Nitrat, Phosphat, Sulfat und viele andere. Theoretisch kann man bei ihnen die Oxidationszahl aus der Lewisformel bestimmen, wie es weiter unten für Moleküle beschreiben wird. Bei einfachen anorganischen Molekülionen wie den gerade genannten geht es aber auch einfacher, wie die folgenden Beispiele zeigen.
Nitrat (NO3-)
Im Periodensystem steht Sauerstoff in der sechsten Hauptgruppe und hat mit 3,5 eine höhere Elektronegativiät als der Stickstoff mit 3,1. Alle bindenden Elektronenpaare "gehören" deshalb formal dem Sauerstoff. Jedes der drei Sauerstoffatome füllt formal seine äußerste Schale bis auf acht Elektronen auf wodurch es dann formal zweifach negativ geladen wäre. Deshalb haben die Sauerstoffatome die Oxidationszahl -II.
Die drei Sauerstoffatome haben formal zusammen 3 · 2 = 6 Elektronen aufgenommen. Hiervon kommt eines von irgendwo außen, denn das Nitration ist einfach negativ geladen. Die restlichen fünf Elektronen müssen demnach vom Stickstoff stammen, weshalb das Stickstoffatom formal fünffach positiv ist und Oxidationszahl +V hat.
Phosphat (PO43-)
Beim Phosphat ergibt sich die Oxidationszahl des Sauerstoffs aus den gleichen Gründen wie schon beim Nitrat als -II. Die Elektronegativität des Phosphors ist mit 2,1 deutlich niedriger als die des Sauerstoffs mit 3,5.
Von den acht Elektronen, die die vier Sauerstoffatome zusammen aufgenommen haben, kommen drei von irgendwo außen, denn das Phosphation ist dreifach negativ geladen. Die restlichen fünf Elektronen stammen demnach vom Phosphoratom, dass deshalb formal fünffach positiv ist. Seine Oxidationszahl ist +V.
Sulfat (SO42-)
Die Elektronegativität von Schwefel ist 2,4, wie ein kurzer Blick ins Periodensystem verrät. Der Sauerstoff hat also auch im Sulfat die höhere Elektronegativität und aus den gleichen Gründen wie zuvor die Oxidationszahl -II.
Die vier Sauerstoffatome des Sulfats haben zusammen formal 4 · 2 = 8 Elektronen aufgenommen. Aus den zwei negativen Ladungen des Ions kann man ersehen, dass von diesen acht Elektronen zwei von irgendwo außerhalb kamen. Die restlichen sechs kommen also vom Schwefel, weshalb das Schwefelatom formal sechsfach positiv ist.
Thiosulfat (S2O32-)
Tja, Thiosulfat - einfach gegenüber dem Sulfat ein Sauerstoff durch Schwefel ersetzt. Da ändert sich für den Sauerstoff nichts und er ist formal zweifach negativ und hat deshalb die Oxidationszahl -II.
Die verbliebenen drei Sauerstoffatome haben zusammen sechs Elektronen aufgenommen. Zwei davon kommen von irgendwo außerhalb, weshalb das Ion zweifach negativ geladen ist. Die restlichen vier Elektronen stammen von den beiden Schwefelatomen - formal zwei von jedem, weshalb die beiden Schwefelatome formal zweifach positiv sind. Deshalb haben sie die Oxidationszahl +II, zumindest scheinbar (s. unten).
Oxidationszahlen bei Molekülen
Wenn man die Lewisformel eines Moleküls kennt, kann man "einfach" die Elektronegativität beider Atome einer Bindung im Periodensystem nachgucken und dann jedes bindende Elektronenpaar einem der beiden Atome zuschlagen. Am Ende zählt man für jedes Atom die Elektronen und vergleicht mit der Elektronenzahl laut Periodensystem - fertig.
Thiosulfat
Aus dem Periodensystem kann man entnehmen, dass die Elektronegativität von Sauerstoff 3,5 ist und die von Schwefel 2,4. Alle bindenden Elektronenpaare zwischen Sauerstoff und Schwefel gehören also formal dem Sauerstoff. Die in der Lewisformel zu sehenden bindenden Elektronenpaare zwischen den beiden Schwefelatomen werden hingegen gerecht aufgeteilt und jedem der beiden Schwefelatome gehören zwei der vier Elektronen. In der Abbildung der Lewisformel ist der "Besitz" an den Elektronen durch die gelben Linien gekennzeichnet.
Zählt man nun die Elektronen, die einem der drei Sauerstoffatome "gehören", kommt man für jedes der drei auf acht Elektronen. Sauerstoff hat eigentlich sechs Elektronen in der äußersten Schale - hier gehören ihm zwei mehr, weshalb er formal zweifach negativ geladen ist und somit die Oxidationszahl -II besitzt.
Für die beiden Schwefelatome führt das Elektronenzählen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Dem in der Abbildung links dargestellten Schwefelatom mit den zwei freien Elektronenpaaren "gehören" sechs Elektronen, dem Anderen in der Mitte des Moleküls hingegeben nur zwei. Eigentlich hat Schwefel sechs Elektronen in der äußersten Schale, genau wie eines der beiden Schwefelatome im Thiosulfat. Dieses Atom hat demnach die Oxidationszahl ± 0. Dem anderen Schwefelatom fehlen vier Elektronen, weshalb es formal vierfach positiv geladen ist und die Oxidationszahl +IV besitzt.
Weiter oben haben wir für beide Schwefelatome +II ermittelt, hier nun für das Eine ±0 und für das Andere +IV - was ist jetzt richtig? Oxidationszahlen sind formale Konstruktionen auf der Basis eines Modells. Sie entsprechen keiner "echten" Ladung. Sie sind aber formal bedeutsam für das Ausgleichen von Redox-Gleichungen. Formal wurde die Oxidationszahl des Schwefels in beiden Fällen korrekt bestimmt und ist also formal korrekt und somit richtig, obwohl die beiden Ergebnisse unterschiedlich sind. Es ist hier wie bei allen Modellen - sie sind niemals völlig richtig aber sie helfen die Welt zu verstehen und sind deshalb sehr wichtige Werkzeuge.
Ethanol, Acetaldehyd und Essigsäure
Alkohol wird im Körper durch Enzyme zu Acetaldehyd (Ethanal) und dann weiter zu Essigsäure (Ethansäure) abgebaut. Die Oxidationszahlen verraten, dass es sich bei dieser Reaktion um eine Oxidation handelt. Aber der Reihe nach:
Der Blick ins Periodensystem verrät die Elektronegativitäten:
- Wasserstoff: 2,1
- Kohlenstoff: 2,5
- Sauerstoff: 3,5
Da Wasserstoff hier die kleinste Elektronegativität hat, "gehört" ihm nie irgendeine Bindung und die Zahl der ihm "gehörenden" Elektronen ist immer 0. Es fehlt also gegenüber dem Grundzustand formal ein Elektron, weshalb alle Wasserstoffatome hier die Oxidationszahl +I haben.
Bindende Elektronenpaare zwischen Kohlenstoff und Wasserstoff "gehören" formal dem Kohlenstoff, während solche zwischen zwei Kohlenstoffatomen beiden Atomen gleichermaßen "gehören". Für die Methylgruppe (CH3) erhält man dann sieben Elektronen, die dem Kohlenstoff gehören. Als Element der vierten Hauptgruppe hätte das Kohlenstoffatom eigentlich nur vier Elektronen. In der Methylgruppe sind es drei mehr, weshalb die Oxidationszahl -III ist.
Sauerstoff hat hier die höchste Elektronegativität. Da es keine Bindungen zwischen zwei Sauerstoffatomen gibt, gehören immer alle bindenden Elektronenpaare formal dem Sauerstoff. Man erhält für alle Sauerstoffatome somit formal acht Elektronen statt der sechs laut Periodensystem. Formal hat also jedes Sauerstoffatom zwei Elektronen aufgenommen und hat deshalb die Oxidationszahl -II.
Für das zweite Kohlenstoffatom in den Molekülen erhält man durch Elektronenzählen dann die in der Abbildung angegebenen Oxidationszahlen -I, +I und +III. Auf dem Weg vom Ethanol zum Acetaldehyd gibt dieses Kohlenstoffatom also zwei Elektronen ab. Bei der Reaktion zur Essigsäure sind es dann zwei weitere. Tatsächlich handelt es sich also um einen oxidativen Abbau des Alkohols.
Wasserstoffperoxid (H2O2)
Bisher konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Oxidationszahl von Sauerstoff immer -II ist. Tatsächlich ist das nur meistens richtig, nicht immer. In Wasserstoffperoxid gibt es eine Bindung zwischen den beiden Sauerstoffatomen. Hierdurch "gehören" jedem der beiden Sauerstoffatome formal nur sieben Elektronen und damit nur eines mehr als laut Periodensystem. Hier ist deshalb die Oxidationszahl des Sauerstoffs nur -I.
Die Oxidationszahl des Wasserstoffs ist wieder +I, so wie auch schon in den anderen Beispielen. Auch hier gibt es natürlich andere Fälle, in denen Wasserstoff eine andere Oxidationszahl (-I oder ±0) hat.
Persönliche Schlussbemerkungen
Oxidationszahlen sind formale Daten, die keine Wirklichkeiten beschreiben. Sie helfen beim Ausgleichen von Redox-Gleichungen, haben aber sonst eine eher geringe Aussagekraft. Wie oben am Beispiel des Thiosulfats zu sehen war, kommt man mit verschiedenen Bestimmungsmethoden sogar zu verschiedenen Werten für ein und dasselbe Atom. Innerhalb ihres beschränkten Anwendungszwecks, den Redox-Gleichungen, sind sie von unschätzbarem Wert. Außerhalb davon ist ihre Aussagekraft aber eher gering.
Häufig findet man in Schulbüchern "Anleitungen" zur Bestimmung von Oxidationszahlen, die mit so pauschalen Aussagen arbeiten wie "Sauerstoff ist immer -II, Wasserstoff immer +I,...". Diese Anleitungen sollen nach meiner Einschätzung den Lernenden in die Lage versetzen Oxidationszahlen auch dann zu bestimmen, wenn er chemische Bindungen nicht verstanden hat - in meinen Augen ein vollkommen sinnloses und nur auf eventuelle Prüfungen ausgerichtetes Vorgehen! Hinzu kommt das Problem der ggf. falsch bestimmten Oxidationszahlen (vgl. Wasserstoffperoxid).